Prometheus 1864
Die Biedermänner des 19. Jahrhunderts waren es, die unser gegenwärtiges technisches und elektronisches Zeitalter vorausgeahnt und-vorausberechnet haben. Sie sind Urheber des modernen Lebens, wir vollziehen nur täglich nach, wie sie sich eine neue, bessere Welt vorgestellt haben.
Eine der letzten und schwierigsten Erfindungen dieser Epoche war das Automobil. Galt es doch, einen vielfältigen Organismus zu schaffen, der im harmonischen Zusammenwirken quasi aus sich selbst die Kraft zur steten, unabhängigen Bewegung gewinnen konnte.
Jemand, der neben dem Feuer eine weitere Energieform – das Benzin – entdeckte, die sich für diesen Zweck besonders eignete, der es bei aller Gefährlichkeit auch in relativ kurzer Zeit bändigte und so für jedermann dienstbar machte, der – zuerst einmal für sich selbst – bewies, daß damit ein Fahrzeug selbsttätig zu betreiben war, – das konnte nur einem besonderen Genie vorbehalten bleiben: Siegfried Marcus.
Daß sich ein solch genialer Geist aber dann auch vielfach der Beurteilung durch nachfolgende Generationen entzieht, ist verständlich. Seine Zeitgenossen allerdings, etwa an der Akademie der Wissenschaften in Wien, zollten diesem Universalgenie der Technik höchste Achtung und zeichneten ihn mehrmals aus, vor allem auf dem Gebiet der Elektrizität erwies er sich mehrfach als ein zweiter Edison.
Dennoch war er in vieler Hinsicht eine nicht ohne weiteres verständliche Persönlichkeit, die man jedoch erst nach dem zweiten Weltkrieg aus kleinbürgerlichen Prinzipien heraus zu beurteilen und abzuwerten begann.
Die Erfindung des Automobils durch Siegfried Marcus unterlag allerdings einem völlig atypischen Ablauf, der durch die Zielstrebigkeit eines Genies und seiner geradezu imaginären Vorstellung von einem brauchbaren, motorbetriebenen Straßenwagen gekennzeichnet war. Diese höchst realistische Vision eines einzelnen, die nur, weil sie das gewesen sein muß, in so wenigen Jahren serienreif abgeschlossen werden konnte, kam, wie viele revolutionierende Neuerungen, trotz der Fortschrittlichkeitsbegeisterung seiner Zeitgenossen einfach zu früh.
Und das gilt nicht nur für das Fahrzeug, sondern sogar auch für den von Marcus entdeckten Kraftstoff Benzin, für dessen sichere Anwendung er sofort die konstruktiven Voraussetzungen schuf, – 1864 die Zündung und ein Jahr später den Vergaser: Die beiden wichtigsten Voraussetzungen für den Betrieb eines Kraftwagens. Er hatte ein Patent auf das Benzinautomobil eigentlich gar nicht mehr nötig, denn ohne diese beiden Aggregate konnte niemand eines mit Erfolg betreiben. Das wurde den anderen erst dreißig Jahre später bewußt, als die seither nicht mehr unterbrochene Entwicklung einsetzte.
Marcus stellte, wie viele ihrer Zeit vorauseilende große Geister, im eher gleichmäßig dahinströmenden, relativ leicht überblickbaren Entwicklungsfluß einen gewissen Störfaktor dar. Das Automobil von 1875 war jedenfalls noch nicht an der Reihe. Ebensowenig aber auch das Dreirad von Benz und das Motorrad von Daimler, denn auch diese Erfinder fanden erst viel später ein aufmerksames Publikum, und zwar im fortschrittlichen Frankreich. Dort bestätigten die sportlichen Ereignisse in den neunziger Jahren endlich den untrüglichen technischen Sinn des Wiener Erfinders, als Benzinwagen aus den beliebten Wagenrennen als endgültige Sieger hervorgingen.
In der Bezeichnung „Otto-Motor“ geistert heute noch der Name des Patentinhabers des Viertaktmotors herum, obwohl auch der erste Motor dieser Art mit Benzinbetrieb von Siegfried Marcus, also nicht von Nikolaus August Otto stammt, und eigentlich ein Marcus-Motor war. Denn Otto baute zeitlebens keinen einzigen Motor, der die Bezeichnung Otto-Motor nach unserem Verständnis verdiente.
Ebenso sind Daimler und Benz nicht die Erfinder des Automobils, als die sie so gerne bezeichnet werden. Sie haben nur früher als andere mit der industriellen Vervielfältigung von Fahrzeugen begonnen. Das Bezeichnende daran ist aber, daß das Benzin ihre Konstruktionen überhaupt erst ermöglichte, sie aber weder Zündung noch Vergaser in jener reifen Ausführung verwendeten wie sie Marcus bereits mehr als ein Jahrzehnt zuvor schützen ließ und zum Einsatz brachte.
Erst als man sich wenige Jahre vor der Jahrhundertwende allgemein den Vorstellungen der Beschaffenheit eines Automobils von Marcus anschloß, war die Entwicklung dieses wichtigen technischen Gerätes unserer Zeit, das Voraussetzung und Garant unseres Wohlstandes und der Ernährung der Weltbevölkerung ist, gesichert. Trotz aller Weiterentwicklung und Bereicherung der Ausstattung besteht jedes der Milliarden Exemplare, die heute auf der Welt laufen, im Grund aus dem Urtyp des Marcus Automobils von 1875.
Siegfried Marcus war, als er in das Wien der neuen Ringstraßenbauten aus Deutschland zuwanderte, ein junger Mann aus wohlhabendem jüdischen Haus, der, wie er später selbst sagte, „dieser Stadt alles verdankte“ und sich in ihr bis zu seinem Tod zuhause fühlte.
Obwohl er zum evangelischen Bekenntnis konvertierte, schützte ihn das 1938, als er schon vierzig Jahre tot war, nicht davor, auf Befehl Hitlers zu Gunsten Daimlers und Benz‘ aus dem deutschen Schrifttum „eliminiert“ zu werden. Und mit Verwunderung muß man zur Kenntnis nehmen, daß es nach sechs Jahrzehnten immer noch eine Gruppe gibt, die diese Verbannung aufrecht erhalten will, um fremde Unternehmen, denen weder das Genie Marcus noch Österreich etwas bedeuten, den unverdienten Ruhm zu überlassen.
Wer sich mit dem Leben von Siegfried Marcus auseinandergesetzt hat, der wird an die griechische Sage von Prometheus erinnert, der dafür, daß er den Menschen das Feuer schenkte, ewig leiden muß. Marcus brachte den Menschen einen neuen Energieträger, und die Parallele ist nicht von der Hand zu weisen.
Fast alle eindeutigen Unterlagen in Form von Dokumenten und Papieren sind in den Kanzleien seiner beiden Patentanwälte – einer in Wien, einer in Berlin vernichtet, andere anläßlich des Selden-Prozesses bereitwillig nach Amerika verschickt worden, wo sie nach Beendigung des Verfahrens verlorengingen. Und diese tragischen Ereignisse haben in der Nazi-Zeit ihre Fortsetzung gefunden.
Mit der Bedeutung der Kraftfahrt nahm auch die Bedeutung seines Erfinders automatisch zu, und so schrumpfte auch in den nachfolgenden Jahrzehnten die Zahl der Unterlagen merkbar, als nach 1960 eine neuerliche Kampagne gegen Marcus anhob, deren Betreiber bis heute alle historischen Nachweise dafür, daß er n i c h t der Erfinder des Automobils ist, schuldig geblieben sind.
Das ungewöhnliche Leben von Siegfried Marcus ist voll von Phänomenen. Für manche ist dieses Leben so wenig faßbar, daß er sozusagen zum wissenschaftlichen Abschuß freigegeben werden sollte. Aber dazu fehlt die erforderliche Munition, – die überzeugenden Gegenbeweise.
Darüber hinaus wird die „Siegfried Marcus Gesellschaft“ aber auch die Leistungen der zahlreichen österreichischen Pioniere, die der Entwicklung des Kraftfahrzeuges nachhaltig ihren Stempel aufdrückten, entsprechend würdigen.